Über Vertrauen, neue Nähe und die Wandlung der elterlichen Liebe
Liebe auf Augenhöhe findet eine neue Form.
Es gibt einen Moment im Elternsein, der sich nicht klar datieren lässt. Er kommt nicht mit einem Geburtstag, nicht mit einem Abschluss, nicht mit dem ersten eigenen Schlüssel der Kinder. Er zeigt sich in einem inneren Innehalten. In einer Frage, die im inneren Raum auftaucht: Was braucht mein Kind jetzt wirklich von mir, wenn es längst seinen eigenen Weg geht?
Eltern, die mir begegnen, kennen diesen Moment. Sie erzählen mir von ihren erwachsenen Kindern, von deren Entscheidungen, von Umwegen, mutigen Schritten, Umwegen, Suchbewegungen und von Unsicherheiten.
Und zwischen ihren Worten liegt eine neue Spannung, die früher in dieser Form nicht da war. Es sind nicht mehr das direkte Handeln und unmittelbare Eingreifen gefragt. Etwas anderes möchte hier Gestalt annehmen.
Erwachsene Kinder brauchen keine Führung und Korrektur mehr. Sie brauchen auch keinen Schutz im alten Sinn. Sie brauchen etwas, das sehr viel stiller und zugleich sehr viel kraftvoller ist.
Sie brauchen Vertrauen.
Vertrauen in ihren inneren Kompass. Vertrauen in ihre Fähigkeit, Erfahrungen zu machen, Entscheidungen zu tragen und an ihrem eigenen Leben zu wachsen. Vertrauen bedeutet hier, den Raum ihres Lebens als eigenen Raum zu achten und ihn nicht mehr mit der elterlichen Bewegung zu überlagern.
Jedes Elternteil war selbst einmal Kind und trägt die Erinnerung daran in sich, wie fordernd dieser Schritt in die eigene Selbstständigkeit sein kann. Über viele Jahre war Nähe untrennbar mit Tun verbunden, mit Sorgen, Organisieren, Mittragen und Mitdenken. In dieser neuen Lebensphase beginnt sich diese Nähe zu wandeln. Sie löst sich aus dem Praktischen und findet ihre neue Gestalt in einer stilleren, weiter werdenden Qualität von Verbundenheit.
Nähe entsteht nun durch Dasein.
Durch Zuhören.
Durch echtes Dableiben, ohne einzugreifen.
In diesen Momenten verändert sich auch der Blick auf das, was Liebe bedeutet. Liebe verliert hier ihre schützende Form und wird zu etwas weiterem. Sie hält nicht mehr fest. Sie öffnet. Sie begleitet nicht mehr durch Schritte. Sie bleibt anwesend, während der andere geht.
Eltern beschreiben diesen Wandel zunächst als ungewohnt. Als Stillwerden an einer Stelle, an der früher Handlung war. Als inneres Zurücktreten, das sich zuerst leer anfühlen kann, weil so viel Bewegung über Jahre nach außen gerichtet war.
Und zugleich entsteht genau hier ein Raum, in dem etwas sehr Wesentliches wachsen darf. Vertrauen wird nicht gedacht. Vertrauen entsteht im Erleben. In den Augenblicken, in denen ein erwachsenes Kind seinen Weg geht, auch dort, wo er nicht dem gewohnten inneren Bild entspricht. In den Augenblicken, in denen Eltern spüren, dass Begleitung weiter möglich ist, ohne den Weg vorzugeben.
Was erwachsene Kinder in dieser Phase ihres Lebens wirklich brauchen, ist ein innerlich freier Raum. Ein Raum, in dem sie sich erleben dürfen, ohne bewertet, korrigiert oder getragen zu werden. Ein Raum, in dem sie Verantwortung nicht als etwas empfinden, das sie erfüllen müssen, sondern als etwas, das sie wählen.
Dieser Raum ist kein Rückzug der Liebe. Er ist ihre Wandlung.
Und diese Wandlung wirkt auf beiden Seiten. Eltern spüren, wie sich ihre eigene Rolle neu ordnet. Wie sich ihr innerer Auftrag von den Lebenswegen der Kinder löst. Wie Aufmerksamkeit langsam in das eigene Leben, zu den eigenen Fragen, zu den eigenen Bewegungen zurückkehrt . Zu dem, was lange Zeit leise im Hintergrund gewartet hat.
Viele entdecken in dieser Phase eine neue Form von Beziehung, eine, die auf Augenhöhe entsteht. Eine, die nicht mehr aus der Elternrolle spricht, sondern aus der Begegnung zweier eigenständiger Menschen. Die Gespräche werden freier, die Nähe wird weiter und die Spannung verliert ihre Schärfe.
Diese große Wendung geschieht nicht an einem einzigen Punkt. Sie entfaltet sich über Zeit. In jedem Moment, in dem Vertrauen über alte Sorge tritt. In jeder Situation, in der Stille mehr trägt als Handlung. In jeder Begegnung, in der Eltern ihr erwachsenes Kind nicht mehr halten, sondern sehen.
Und vielleicht liegt genau hier eine der tiefsten Formen von Liebe. Eine Liebe, die den anderen nicht mehr sichern möchte, sondern ihm zutraut, sein Leben zu meistern. Eine Liebe, die bleibt, ohne zu binden. Eine Liebe, die schützt, ohne zu umklammern. Eine Liebe, die nicht mehr über Nähe definiert wird, sondern über Freiheit.
Wenn diese neue Form von Nähe Gestalt annimmt und Vertrauen den inneren Raum füllt, berührt das nicht nur die Beziehung zu den erwachsenen Kindern. Es berührt auch die Frage, wer man selbst jenseits der aktiven Elternrolle geworden ist. Aufmerksamkeit kehrt zurück ins eigene Leben, in die eigenen Bewegungen, in das, was lange Zeit leise im Hintergrund gewartet hat.
Im nächsten und letzten Text dieser Serie geht es genau um diesen Übergang. Um die neue Identität, die entsteht, wenn das Leben sich von außen nach innen zurückordnet.
→ Weiterlesen: „Wer bist du, wenn du nicht mehr über deine Kinder lebst?“
Ich bin Susanne.
Ich arbeite mit Frauen, die ihren inneren Weg ernst nehmen.
Frauen, die spüren, dass etwas in ihnen wächst.
Wenn es in dir ruft, findest du den Weg.

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