Über Erschöpfung, Funktionieren und den Moment, in dem der Körper lauter wird
Der Körper trägt oft länger als das Bewusstsein.
Manchmal sitzt mir jemand gegenüber, spricht ruhig über den Alltag, über die erwachsenen Kinder, über Verantwortung und Termine. Und während diese Worte fließen, sehe ich die Schultern nach vorn sinken, den Atem flacher werden, die Hände in einer leisen Spannung ruhen. Lange bevor etwas ausgesprochen wird, erzählt der Körper bereits seine Geschichte.
Viele Eltern, die mir gegenübersitzen, kennen diesen Zustand seit Jahren. Sie stehen im Leben. Sie sind verlässlich. Sie halten zusammen, was gehalten werden will. Sie sorgen, organisieren, denken voraus. Ihr Körper hat gelernt, zu funktionieren und er tut es zuverlässig.
Doch der Körper vergisst nichts.
Er erinnert sich an jedes Jahr, in dem Pausen verschoben wurden. An jede Phase, in der Weitergehen wichtiger war als Innehalten. An jedes innere Zusammenziehen, das notwendig war, um stark zu bleiben. Diese Erinnerung lebt nicht im Denken. Sie lebt im Nervensystem. In der Atmung. Im Schlaf. In der Art, wie Spannung gehalten wird.
Viele sagen dann: „Eigentlich müsste ich längst kürzer treten.“
Und doch bleibt das Leben im selben Takt.
Ihnen fehlt nicht die Einsicht, doch der Körper steht noch in einer anderen Bewegung. In der Bewegung des alten Auftrags, des Durchhaltens und des Tragens.
Dieser Auftrag hat oft früh begonnen, manchmal in der eigenen Kindheit oder im jungen Erwachsenenalter und manchmal in Lebensphasen, in denen Verantwortung schnell kam und lange blieb. Der Körper hat gelernt: Jetzt braucht es Kraft. Jetzt braucht es Einsatz. Jetzt braucht es Standhalten.
Und dieser Lernprozess wirkt weiter, auch dann, wenn sich die äußeren Umstände längst verändert haben.
Viele Eltern sagen mir: „Meine Kinder sind doch längst erwachsen.“
Und während dieser Satz gesagt wird, zeigt der Körper oft etwas anderes. Es herrscht eine innere Wachheit und subtile Alarmbereitschaft vor. Eine Anspannung, die nicht mehr an eine konkrete Aufgabe gebunden ist, sondern zur Grundhaltung geworden ist.
Loslassen im Denken ist hier oft schon geschehen.
Loslassen im Körper braucht Zeit.
Denn der Körper folgt einem anderen Rhythmus als der Verstand. Er bewegt sich langsamer. Er prüft länger. Er braucht andere Signale, um Vertrauen zu fassen. Sicherheit entsteht im Körper erst, wenn neue Erfahrung den alten Auftrag Schritt für Schritt überlagert.
Viele erleben genau hier eine tiefe Erschöpfung. Es ist kein plötzlicher Zusammenbruch, sondern als stetiges Nachlassen von Kraft. Der Schlaf wird leichter. Die Regeneration kürzer. Die Freude am Tun weniger und trotzdem läuft das Leben weiter im gewohnten Takt.
Erschöpfung ist oft kein Zeichen von Schwäche.
Sie ist ein Zeichen von zu langer Belastung.
Der Körper zeigt damit, dass sich etwas in der inneren Ordnung neu ausrichten möchte. Eine Bewegung, die viele Jahre getragen hat, will eine neue Richtung finden. Die Kraft möchte sich anders verteilen, ruhiger fließen und näher an das herankommen, was wirklich trägt.
Viele versuchen in dieser Phase, bewusster zu leben, mehr auf sich zu achten, langsamer zu werden. Und oft bleibt dieses Bemühen oberflächlich, weil der Körper noch im alten Signal steht. Er kennt das neue Tempo noch nicht als sicher. Er hat es noch nicht als verlässlich erfahren.
Veränderung im Körper entsteht durch Wiederholung, durch neue Rhythmen und Pausen, die nicht verhandelt werden. Durch Zeiten, in denen Leistung keine Antwort ist.
Wenn Eltern beginnen, diesen körperlichen Zusammenhang ernst zu nehmen, verändert sich auch ihr Umgang mit ihren erwachsenen Kindern. Die Sorge verliert langsam ihre Schärfe. Das dauernde innere Mitgehen hört auf, sich wie Pflicht anzufühlen. Die Aufmerksamkeit darf wieder zurückfließen ins eigene Leben.
Manche Menschen beschreiben diesen Wandel als ein allmähliches Ankommen im eigenen Körper. Als ein erstes echtes Ausruhen an Stellen, die lange angespannt waren. Als ein inneres Nachlassen der ständigen Bereitschaft.
Mit diesem Nachlassen öffnet sich ein Raum, in dem eigene Freude wieder spürbar wird, in dem das eigene Tempo sich zeigen darf und in dem Präsenz eine neue, lebendige Qualität erhält. In diesem Raum entsteht Loslassen aus dem Erleben heraus, aus dem Körper selbst, als Vertrauen, das sich mit der Zeit vertieft und sich leise in den Alltag einprägt.
Wenn der Körper aus dem alten Auftrag aussteigt, verändert sich das ganze Feld. Die Beziehung zu den Kindern wird ruhiger. Die eigene Rolle wird leichter. Das Leben bekommt wieder mehr Weite.
Dieser Übergang geschieht in vielen kleinen Schritten. In jeder Pause, die eingehalten wird. In jedem Moment, in dem das Tempo sinken darf. In jeder Entscheidung, die dem eigenen Körper mehr Gewicht gibt als den alten inneren Programmen.
Und genau hier beginnt die nächste Wendung.
Wenn der Körper in dieses neue Tempo findet, verändert sich auch die Art, wie Beziehung erlebt wird. Die innere Wachheit wird leiser. Die Sorge verliert an Gewicht. Und an ihre Stelle tritt etwas anderes, das aus einer tieferen Ruhe heraus wächst.
Im nächsten Text geht es genau darum. Um die Frage, was erwachsene Kinder in dieser Phase ihres Lebens wirklich brauchen.
→ Weiterlesen: „Was erwachsene Kinder wirklich brauchen.“
Ich bin Susanne.
Ich arbeite mit Frauen, die ihren inneren Weg ernst nehmen.
Frauen, die spüren, dass etwas in ihnen wächst.
Wenn es in dir ruft, findest du den Weg.

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